Wahlrecht oder Wahlpflicht?

Nach Art. 20 des Grundgesetzes (GG) geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dieser demokratische Kernsatz ist begleitet von der Aussage, dass diese Gewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird.

Auch die Verfassung des Landes Baden-Württemberg geht in Art. 25 fast wörtlich von denselben Grundsätzen aus. Wahlen sind also das zentrale politische Ereignis, bei dem die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk am sichtbarsten zum Ausdruck kommt. Dass die Praxis oft etwas bescheidener aussieht, schmälert den Anspruch nicht. Eine lebendige Demokratie muss sich darum kümmern, dass die Wahlen Kristallisationspunkt und Ausdruck demokratischen Willens sein können.

An dieser Stelle braucht nicht ausführlich auf die Funktion von Wahlen eingegangen zu werden. Wahlen geben Parlament und Regierung die Legitimation für ihr Wirken. Sie wirken in gleicher Weise als Kontrolle der Amts- und Mandatsträger*innen. Außerdem stellen die Wahlen einen Konkurrenzkampf um Macht und Ämter dar. Schließlich werden bei Wahlen unterschiedliche Interessen gebündelt und integriert.

Von elementarer Bedeutung ist in einer Demokratie die Wahl auf Zeit. Bei Wahlen sollte die Revision einer einmal getroffenen Entscheidung stets akut werden können.

In Anbetracht der großen Bedeutung von Wahlen könnte man aus dem Wahlrecht eine dem demokratischen Verhalten gemäße Wahlpflicht ableiten. Eine solche Verpflichtung gibt es in manchen Ländern (z.B. Belgien). Dennoch setzt sich mehr und mehr die Meinung durch, dass das demokratische Gemeinwesen nicht auf Zwang, sondern auf der freien Initiative der Bürger*innen beruht.

Das Wahlrecht ist ein Anspruch, der in der Geschichte lange genug umkämpft war und daher kaum zu einer rechtlichen Verpflichtung degradiert werden kann. Es handelt sich aber um eine moralische Pflicht, auf deren Erfüllung eine funktionierende Demokratie angewiesen ist.

 

Was Nichtwähler*innen bedenken sollten

Wenn man die Beteiligung an Wahlen in der Bundesrepublik überprüft, so hat es lange Zeit - verglichen mit anderen Ländern - wenig Anlass zur Besorgnis gegeben. Wahlbeteiligungen von etwa 90 Prozent bei Bundestagswahlen waren kaum zu steigern. Soziologinnen und Soziologen geben zu bedenken, ob es sich bei dermaßen hohen Quoten gar um Alarmsignale für Krisen und Unzufriedenheit handeln könnte. Andererseits muss der Anspruch einer funktionierenden Demokratie, vom Wahlrecht auch Gebrauch zu machen, aufrechterhalten bleiben. Zuletzt war jedoch eine deutliche Zunahme der Nichtwähler*innen auf allen Ebenen zu konstatieren. Bei der Landtagswahl 2006 in Baden-Württemberg lag die Wahlbeteiligung gerade einmal bei 53,4 Prozent. Beinahe jede zweite Person der wahlberechtigten Bevölkerung hatte demnach auf das "Königsrecht des demokratischen Bürgers" verzichtet. Dieser Trend wurde bei den vergangenen Wahlen gebrochen. Die Wahlbeteiligung stieg sogar auf 70,4 Prozent bei der Wahl 2016.

Auch wenn wir durch Untersuchungen wissen, dass etliche Nichtwähler*innen politisch interessiert sind und sich ganz bewusst vom Wahlvorgang fernhalten, kann man dennoch davon ausgehen, dass sich viele Nichtwähler*innen über die Wirkung ihres Verhaltens nicht viel Gedanken machen. Sie tragen aber in Wirklichkeit ganz entscheidend zum Ausgang von Wahlen bei. Sonnenschein und Bequemlichkeit mögen schon manche Wahl mit entschieden haben. Für die Nichtwähler*innen müsste besonders bedrückend sein zu wissen, dass ihre Enthaltung unter Umständen Gruppierungen zugute kommt, die sie nie unterstützen wollten. Es ist also in jedem Fall problematisch, sich nicht an Wahlen zu beteiligen. Der Standpunkt: Es ist ja ohnehin nutzlos, man kann nichts ausrichten, ist objektiv nicht haltbar.

 

Wahlkampf und Wahlentscheidung

Freilich können auch die politischen Parteien, die den Wahlkampf gestalten, wesentlich dazu beitragen, dass die Bürger*innen vom politischen Geschäft eher angewidert als angezogen werden. Durch die Verteufelung des politischen Gegners wird fast jede Identifikationsmöglichkeit genommen. Das Anpreisen von Politik im Stil der Waschmittelreklame vermittelt nicht gerade den Eindruck, dass Wahlen ein sehr bedeutsamer Vorgang in einer Demokratie wären. Natürlich müssen Mittel angewandt werden, die mobilisierend wirken und auf Wahlen aufmerksam machen, aber es ist doch merkwürdig, wenn die "Verpackungsprobleme" im Vorfeld der Wahlen mehr Gewicht als die Inhalte haben. Der Effekt ist durchaus vorhanden: Die höhere Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen im Vergleich mit Landtagswahlen ist sicher auch auf die umfassendere "Materialschlacht" zurückzuführen - dennoch ist das kein Beweis für die Angemessenheit dieser Methoden in einer funktionierenden Demokratie.

Da man ohne Elemente der Werbung bei Wahlen nicht auskommen kann, kommt es auch wesentlich darauf an, die Wählerin bzw. den Wähler zu befähigen, hinter die Reklame zu blicken. Die Angebote politischer Bildungsarbeit können deshalb nicht umfassend genug sein, da es für die Bürger*innen sehr schwer ist, begründete Entscheidungen zu treffen. In einer Demokratie sollte die Wahl eine "Entscheidungsqual" sein. Der Befund, dass die Zahl der Wechselwähler zunimmt, spricht für mehr Reife der Bürgerinnen und Bürger. Wer die Wahlentscheidung als "lebenslangen Dauerauftrag" versteht, übersieht z.B. unter Umständen die Kontrollfunktion der Wahlen.

Die begründete Wahlentscheidung stellt im Idealfall fast eine Überforderung der Wähler*innen dar. Es gibt nämlich verschiedene Orientierungsmarken für Wähler*innen, die unter Umständen nur schwer zur Deckung zu bringen sind. Man kann zum Beispiel versuchen, die sachgerechtesten Lösungen politischer Problemfelder auszumachen. Die Orientierung an der Qualität des politischen Führungspersonals kann vielleicht eine andere Entscheidung nahelegen. Diese Markierungspunkte sind für andere Wähler*innen wieder weniger bedeutsam, gemessen an der Frage der Grundausrichtung einer Politik. Ins Blickfeld treten weiter die Fragen des persönlichen Interesses: Was habe ich persönlich von dieser oder jener Wahlentscheidung zu erwarten? Das sind nur wenige Punkte aus dem breiten Fächer der Überlegungen, die bei einer Wahl angestellt werden könnten. Sie zeigen, dass die Wahl wesentlich anspruchsvoller ist, als es der Wahlkampf oft vermittelt. Auch die wünschenswerte hohe Wahlbeteiligung ist letztlich nur sinnvoll, wenn begründete Entscheidungen dahinterstehen.

Da Wahlen nur in größeren Abständen stattfinden, sollte das Interesse der Bürger*innen daraufhin noch stärker gebündelt und aktualisiert werden können.

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Text von Siegfried Schiele (ehemaliger Direktor der Landeszentrale), aktualisiert im Oktober 2020 durch die Internetredaktion LpB BW.

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